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Tarifpluralität mit weitreichenden Folgen

Während die Mitglieder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) Mitte April 2011 erneut Tage lang viele Züge privater Bahnbetreiber zum Stillstand und damit zahlreiche Pendler zur Verzweiflung brachten, diskutierten in Berlin gleich vier Ministerien, wie man das Tarifrecht zukunftsfähig machen kann. Federführend das Bundesarbeitsministerium, aber auch das Innen-, das Wirtschafts- und das Justizressort sind mit von der Partie. Doch die Materie ist komplex, der Frontverlauf unübersichtlich. Insbesondere, da offenbar innerhalb der Regierungskoalition Union und FDP auf unterschiedlichem Kurs liegen.

Der Ursprung des Zwistes liegt im Juni 2010. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) schob den seit den Tagen der Weimarer Republik geltenden Grundsatz der Tarifeinheit („Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“) aufs Abstellgleis. Der 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts schloss sich den Kollegen vom Vierten Senat an, die der Tarifeinheit den Rest gegeben hatten (BAG, Beschluss vom 23.6.2010, 10 AS 2/10 u.a.). Seither gilt in Deutschland Tarifpluralität: Für einen Betrieb können nebeneinander unterschiedliche Tarifverträge gelten, immer dann, wenn Mitglieder mehrerer Gewerkschaften in einem Betrieb tätig sein. Kernsatz der Richter: „Es gibt keinen übergeordneten Grundsatz, dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen können.“

Segensreiche Vielfalt?

Seither hat er also höchstrichterlichen Segen, der Kampf der Gewerkschaften für möglicherweise unterschiedliche Ziele – in einem Betrieb. Ist der „Aufstand der Zwerge“ (Wirtschaftswoche) Fluch oder Segen? Jedenfalls ein „Überbietungswettbewerb“ mit Sprengkraft, wie Kritiker meinen. Denn das Biotop unterschiedlicher Tarifverträge für ein und dieselbe Beschäftigtengruppe ist für den Arbeitgeber nur schwer zu pflegen und Arbeitskämpfe kaum noch zu beherrschen, zumal dann, wenn sie nacheinander stattfinden („Kaskadenstreiks“).

Der Bonner Arbeitsrechtler, Professor Gregor Thüsing, macht drei konkrete Gefahren aus:
- Spaltung der Belegschaft, wenn trotz gleicher Arbeit in einem Betrieb nach unterschiedlichen Tarifverträgen bezahlt wird;
- Vollzugsaufwand beim Arbeitgeber, der mehreren Tarifverträgen gerecht werden soll und deswegen künftig nach der Gewerkschaftszugehörigkeit fragen müsste – höchst problematisch;
- immer mehr Arbeitskämpfe, wenn mehrere Gewerkschaften agieren und nicht zur Kooperation bereit sind - das Kräftegleichgewicht im Arbeitskampf verschiebt sich.

Lösungsansätze für den Gesetzgeber

Zu Wort gemeldet haben sich im „Wettlauf gegen das Tarifchaos“ („Handelsblatt“) die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber (BDA) und der nach dem Industrieverbandsprinzip organisierten Gewerkschaften (DGB). In einem Gesetzesvorschlag empfehlen sie, den Vorrang jenes Tarifs, den die mehrheitlich organisierten Arbeitnehmer im Betrieb durchsetzen, nun im Tarifvertragsgesetz (TVG) zu verankern. Es ist eben jener Grundsatz des Richterrechts, mit dem das BAG im vergangenen Jahr gebrochen hatte.

Keinen Gefallen findet die Rückkehr zur Tarifeinheit via Gesetz bei den Spartengewerkschaften, aus einem einfachen Grund: Sie vertreten zumeist weit weniger Mitarbeiter als die alten Flächengewerkschaften und hätten damit höchst selten Aussicht, die von ihnen erkämpften Tarife auch durchzusetzen. Der BDA/DGB- Entwurf stellt ohne Zweifel eine Verbesserung gegenüber der derzeit ungeregelten Situation dar. Dennoch löst er wohl nicht alle Probleme. Auch verfassungsrechtliche Bedenken wurden laut. Der Bonner Arbeitsrechtler Thüsing hat Verständnis für die Angst der Spartengewerkschaften vor der „Marginalisierung“: Ob sie einen „Tarifvertrag abschließen können, hinge dann vom Willen der Mehrheitsgewerkschaft und des Arbeitgebers ab. Der Tarifvertrag des Marburger Bundes (MB) und der GDL wäre dann nicht mehr gültig. Wozu dann Mitglied in GDL und MB sein?“ Hier lauern nach Ansicht des Rechtsprofessors verfassungsrechtliche Probleme, schließlich stehen die Gewerkschaften unter dem Schutz des Grundgesetzes. Dass ein Gesetz „postwendend“ beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorgelegt wird, hat MB-Vorsitzender Rudolf Henke bereits angekündigt.

Allerdings distanzierte sich der DGB-Bundesvorstand in einer Sitzung am 7. Juni 2011 mit folgendem Beschluss wieder von dem gemeinsamen Gesetzesvorschlag: "Das politische Ziel der Tarifeinheit ist und bleibt richtig, um die Tarifpolitik zu stärken und die Tarifautonomie sicherzustellen. Der DGB sieht allerdings unter den gegebenen Bedingungen keine Möglichkeit, die Initiative von BDAund DGB weiterzuverfolgen."

Ausgleich der Interessen

Auf der Suche nach einem „angemessenen Interessenausgleich“ erarbeitete Gregor Thüsing im Auftrag der Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftung gemeinsam mit acht weiteren namhaften Rechtsprofessoren aus Deutschland und Österreich im Jahr 2010 einen Gesetzesvorschlag, hier bitte Link setzen auf Monographie der verfassungsrechtliche Probleme vermeidet, weil er Branchen- wie Spartengewerkschaften gleichermaßen berücksichtigt, dabei aber auch die Interessen der Betriebe im Blick hat.

Die Kerngedanken der Professoreninitiative zur Tarifpluralität:

- Streikführerschaft der Mehrheitsgewerkschaft: Das Primat des Arbeitskampfes liegt grundsätzlich bei der stärksten Gewerkschaft („Solange verhandelt wird, soll nicht gestreikt werden.“)
- Lassen Arbeitgeber und Mehrheitsgewerkschaft die kleinere Gewerkschaft links liegen und schließen sie ohne sie ab, dann hat sie wieder volles Streikrecht.

Die Professoren wollen mit ihrer einstimmig erarbeiten Lösung des Tarifdilemmas Spaltungen der Belegschaften vermeiden, weil alle, die gleiche Arbeit im Betrieb leisten, nach demselben Tarifvertrag bezahlt werden. Außerdem räumen sie zwar der Mehrheitsgewerkschaft das Primat ein, garantieren dabei jedoch der Spartengewerkschaft innerhalb der Sparte die alleinige Repräsentation .

Dass dabei einige Nachteile in Kauf zu nehmen sind, wissen die im Auftrag der Weizsäcker-Stiftung agierenden Professoren: Die Arbeitgeber haben es mit mehreren Verhandlungspartnern zu tun. Berufsübergreifende Kompromisse werden schwieriger, wenn dabei nicht alle Gewerkschaften kooperieren. Auch die Mehrheitsgewerkschaft muss nach dem Gesetzesvorschlag Federn lassen: Sie hat kein Alleinvertretungsrecht in der Belegschaft. Selbst die Spartengewerkschaften kommen nicht ungeschoren davon: Sie müssen mit Einschränkungen im Arbeitskampf leben. Vielleicht werden auch neue Regeln speziell für Unternehmen der Daseinsvorsorge erforderlich.