CFW Stiftung

Praktikeranmerkungen zum Professorenentwurf

Der Gesetzentwurf der Professoreninitiative zur gesetzlichen Regelung der Tarifpluralität ist und sollte aus Sicht der Praxis keine Alternative zum BDA/DGB Entwurf sein, sondern die Diskussion um das Thema an sich bereichern und Lösungsansätze aufzeigen, welche über den Inhalt des BDA/DGB Entwurfs hinaus gehen. Aus Praxissicht ist dieser Ansatz zu begrüßen, da er sich von der bisherigen, von Teilen der Wissenschaft geäußerten, bloßen Ablehnung des Prinzips der Tarifeinheit abhebt und die Notwenigkeit einer (zügigen) gesetzlichen Regelung belegt. Der vorliegende Entwurf ist damit ein erster wichtiger Schritt für eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung hin zu einer lösungsorientierten Weiterentwicklung des Tarifvertrags-und Arbeitskampfrechts. Allerdings muss der gewählte Ansatz weiterverfolgt bzw. weiterentwickelt werden. Die Zustimmung aus Sicht der Praxis wäre deutlicher ausgefallen, hätte der Entwurf eine Quorenregelung enthalten, wonach eine Gewerkschaft einen bestimmten Mindestsatz der Belegschaft vertreten muss, z.B. 20 Prozent. In jedem Fall ist nun eine grundlegende und baldige Lösung im Zusammenwirken von Wissenschaft, Praxis und Politik gefordert.

Grundlegende Positionen der Praktiker zu den Problemen der Tarifpluralität

Die Existenz von Sparten-bzw. Berufsgruppengewerkschaften und die in der Praxis bereits bestehende Gewerkschaftspluralität sollen nicht in Frage gestellt werden. Weder die Tarifautonomie, noch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit sollen umgangen werden. Die Praxis bekennt sich ausdrücklich zum deutschen System der betrieblichen und überbetrieblichen Tarif-und Sozialpartnerschaft. Es geht den Praktikern damit vor allem um die Schaffung von Regelungen des Miteinanders bzw. um gesetzliche Rahmenbedingungen, die sicherstellen, dass eine größtmögliche Verteilungsgerechtigkeit in einem Unternehmen erreicht wird und nach Konfliktphasen auch wieder verlässliche Friedensphasen eintreten. 

Durch die aktuelle Rechtsprechung des BAG droht eine weitere Zersplitterung der Tariflandschaft und damit eine Destabilisierung des Systems der Tarifautonomie insgesamt. Schon seit einigen Jahren ist ein Trend zur stärkeren Pluralisierung der Gewerkschaftslandschaft feststellbar, der mit der Entstehung neuer Berufsgruppengewerkschaften einhergeht. Diese vertreten gewerkschaftlich lediglich die Interessen einzelner funktional begrenzter Beschäftigtengruppen, teilweise sogar nur eines einzigen Berufes. Die Gefahr besteht – und hierfür gibt es aktuelle Beispiele aus der Praxis –, dass entgegen der von allen Sozialpartnern zu tragenden Gesamtverantwortung für ein Unternehmen das partikulare Interesse für eine Mitarbeitergruppe deutlich in den Vordergrund rückt. Es werden sich in Zukunft weitere Gewerkschaften in unterschiedlichen Industriezweigen bilden, die spezielle Berufsgruppen vertreten. Das fördert Gruppenegoismus zu Lasten anderer Beschäftigtengruppen im Unternehmen. Der Gesetzgeber ist daher dringend gefordert zukunftsweisende Lösungen zu finden. 

Ein Gesetz sollte die Betätigung von Konkurrenzgewerkschaften nicht ausschließen, muss aber eine drohende Zersplitterung der Tariflandschaft verhindern. Ansonsten besteht eineernsthafte Gefährdung des Tariffriedens und damit eine Gefährdung des deutschen Tarifvertragssystems insgesamt. Eine Gewerkschaftspluralität kann und soll den unterschiedlichen Interessenlagen der Unternehmen einerseits und der jeweils organisierten Arbeitnehmer andererseits Rechnung tragen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland konnte trotz eines hohen Lohnniveaus immer mit der Verlässlichkeit der Arbeitsbedingungen, einer klaren Tarifzuständigkeit und einem weitreichenden Tariffrieden bei wenigen Streiktagen punkten. Diesen Standortvorteil muss ein Gesetz in einer pluralistischen Tariflandschaft auch in Zukunft sichern.

Durch die ausschließliche Wahrnehmung von partikularen Interessen mehrerer Koalitionen nimmt zwangsläufig die Verteilungsgerechtigkeit in der Belegschaft ab. Langfristig verlieren hierdurch alle Mitarbeiter, da das Gesamtinteresse für alle Beschäftigtengruppen in einem Unternehmen und damit die Solidarität unter den Mitarbeitern verloren geht. Eine gesetzliche Regelung sollte eine gerechte Verteilung der knappen Unternehmensressourcen für Personalausgaben unter allen Beschäftigten gewährleisten und eine Spaltung der Belegschaft verhindern. Unter dem Grundsatz der Tarifeinheit war die Verteilungsgerechtigkeit dadurch gewährleistet, dass es nur einen für alle Arbeitnehmeranzuwendenden Tarifvertrag gab. Dennoch gab es in dieser Zeit, immerhin 5 Jahrzehnte, Raum zur Gründung neuer und auch auf bestimmte Berufsgruppe spezialisierter Gewerkschaften. Das zu lösende Problem ist daher nicht der gleichzeitige Bestand mehrerer Koalitionen (Gewerkschaftspluralität), sondern deren parallele tarifautonome Betätigung (Tarifpluralität) für dieselbe oder auch unterschiedliche Zielgruppen unter den Arbeitnehmern. Wenige Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen können weit durchsetzungsstärker sein als der Rest der Belegschaft. Dies führt in der Folge zu einer Spaltung der Belegschaft eines Unternehmens.

Eine Synchronisierung der Friedenspflichten der im Unternehmen bestehenden Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften wäre begrüßenswert. Unternehmen mit tarifpluralen Gewerkschaftsstrukturen sind mit dem Problem konfrontiert, dass die Gewerkschaften weitgehend zu unterschiedlichen Zeitpunkten verhandeln und Ressourcen des Unternehmens dadurch in einem hohem Maße ganzjährig gebunden werden. Daneben könnte eine Vervielfachung von Arbeitskämpfen zu unterschiedlichen Zeitpunkten verhindert werden. ´

In der vergangenen Wirtschafskrise konnte durch das Zusammenwirken von Unternehmen, Tarifpartnern und Politik eine Vielzahl von Arbeitsplätzen gesichert werden. Hierzu auch Arbeitgeberpräsident Prof. Dr. Dieter Hundt in seiner Rede „Deutschland im Aufholprozess“ anlässlich des Deutschen Arbeitgebertag 2010 am 23. November 2010 in Berlin: „Möglich war dieses Zusammenwirken von Unternehmen, Betriebsräten und Tarifpartnern im Rahmen der Tarifautonomie aber nur, weil wir in Deutschland bisher die Tarifeinheit haben. Wie hätte die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von Betriebsräten und Gewerkschaften organisierte Beschäftigungssicherung funktionieren können, wenn wir es in den Betrieben mit vielen rivalisierenden Gewerkschaften zu tun hätten? Wie hätten wir Vereinbarungen zur Sicherung von Arbeitsplätzen mit der gesamten Belegschaft zustande bringen sollen, wenn es nicht Verhandlungspartner geben würde, die sich auch für die gesamte Belegschaft verantwortlich fühlen?“


Anforderungen der Praxis an einen Ordnungsrahmens für das Tarifvertrags-und Arbeitskampfrecht

Nur eine „Waffengleichheit“ zwischen dem Arbeitgeber und den ihm gegenüberstehenden Gewerkschaften bietet die Chance für ausgewogene Tarifverträge und faire Kompromisse. Dienlich für die Bestimmung eines gesetzlichen Ordnungsrahmens könnten die nachfolgenden Mechanismen und Spielregeln sein:

Die Tarifeinheit ist für die Tarifautonomie unverzichtbar. Es muss für die Belegschaft in einem Unternehmen unmissverständlich klar sein, welcher Tarifvertrag für sie gilt. Für dieselbe Tätigkeit und die gleiche Person darf daher nur ein Tarifvertrag gelten. 

Das politisch bewährte Quorum-Prinzip sollte auch für Gewerkschaften zur Anwendung kommen. Durch die in der Politik übliche Fünfprozent-Hürde in Bezug auf die Gesamtbelegschaft könnte die formale Voraussetzung für die Möglichkeit einer Interessenvertretung für Berufsgruppengewerkschaften oder Minderheitsgewerkschaften geregelt werden. Eine Klientelpolitik zu Lasten der Mehrheit einer Belegschaft könnte damit ausgeschlossen werden. 

Der Tariffrieden ist gefährdet, wenn durch verschiedene Berufsgruppengewerkschaften in einem Unternehmen jederzeit und zeitversetzt Arbeitskämpfe geführt werden könnten. Eine gesetzliche Regelung sollte die Harmonisierung der Laufzeit von Tarifverträgen unterschiedlicher Gewerkschaften in einem Unternehmen und damit eine Harmonisierung der Friedenspflicht sicherstellen. Die Friedenspflicht während der Laufzeit eines Tarifvertrages verbietet Arbeitskämpfe. Sie garantiert dem Arbeitgeber für eine feste Laufzeit und bezogen auf das gesamte Unternehmen Planungssicherheit und kalkulierbare Personalkosten für den definierten Zeitraum. Sie gewährleistet damit Kostenstabilität und konstante Produktivität. Um diesen Sinn und Zweck sicherzustellen, muss die Friedenspflicht unternehmensbezogen und nicht nur in Bezug auf eine Berufsgruppe gelten. 

Es müssen Handlungsoptionen für außergerichtliche Einigungen zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften geschaffen werden. In großen Teilen der Praxis hat sich dafür die Schlichtung als ein bewährtes Instrument bewährt, weshalb diese einem Arbeitskampf vorgeschaltet sein könnte. Bevor es überhaupt zu einem Streik kommen kann, sollten erst alle Möglichkeiten einer Einigung ausgeschöpft sein (z. B. durch vorgeschaltete Schlichtungsverfahren). 

Es sind konkrete gesetzliche Spielregeln oder ggf. auch freiwillige Vereinbarungen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften erforderlich, die verhindern, dass z.B. die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Arbeitskampf durch kleinere Gruppen von Arbeitnehmern zu Lasten der Arbeitgeber, aber auch Drittbetroffener, in Frage gestellt wird. Folge ansonsten: Erhebliche Schäden auch für unbeteiligte Unternehmen und andere Mitarbeitergruppen desselben Unternehmens. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen die Höhe der zu erwartenden Schäden, die Auswirkungen auf Dritte und die Nachholbarkeit der Arbeitsleistung („verderbliche Güter“) Berücksichtigung finden (Definition der Kampfparität im Einzelfall). Es sollten dabei die Wirkungsmechanismen und die Ausgestaltung in unterschiedlichen Geschäftssystemen (u.a. Dienstleistung/Produktion) in Betracht gezogen werden.

Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit haben gezeigt, dass bereits die Ankündigung eines Streiks, ohne dass dieser tatsächlich durchgeführt werden muss, zu denselben erheblichen wirtschaftlichen Folgen wie der Arbeitskampf selbst führt („kalter Streik). Dies gilt insbesondere für Branchen, in denen die Nachholbarkeit der Arbeits-und Dienstleistung unmöglich ist. Der „kalte Streik“, der bisher bei der ankündigenden Gewerkschaft zu keinem Nachteil (insbesondere zu keinen Kosten) führt und damit die Kampfparität verschiebt, sollte als Arbeitskampfmittel angesehen und als rechtswidrig eingestuft werden. Nur „Parität“ zwischen Unternehmen und Gewerkschaften bietet die Chance für ausgewogene Tarifverträge und faire Kompromisse.

Anmerkungen der Praxis zum Professorenentwurf

Das Modell der „Tarifeinheit in der Berufsgruppe“ bzw. ein auf spezielle Arbeitnehmergruppen bezogenes Mehrheitsprinzip kann die weitere „Verspartung“ begünstigen. Dies insbesondere auch durch die Möglichkeit für Gewerkschaften z.B. im Rahmen einer Tarifforderung den Geltungsbereich einseitig zu bestimmen bzw. zu optimieren. Die Praxis sieht das kritisch.

Tarifeinheit im Betrieb ist nach dem Gesetzentwurf bei gleichen Mitarbeitergruppen möglich, bei einer heterogenen Mitarbeiterstruktur oder hoher „Verspartung“ jedoch nicht. Gerade deswegen und auf Grund des Bekenntnisses zur Gewerkschaftspluralität werden zusätzlich Regelungen im Arbeitskampfrecht benötigt. 

Der Gesetzentwurf sieht vornehmlich Lösungen im Rahmen des Abschlusses von Haustarifverträgen vor. Die maßgebliche aktuell betroffenen Branchen sind jedoch von der Existenz von Verbands-oder Konzerntarifverträgen geprägt. Deshalb müssen vor allem hierzu Lösungen gefunden werden.

Die vorgesehene Einschränkung des Streikrechts für Minderheitsgewerkschaften sollte nicht durch „Passivität“ der jeweiligen Gewerkschaft („Weigerung zur Kooperation“) unterlaufen werden können mit dem Ziel eines uneingeschränkten Streikrechts, nachdem die Mehrheitsgewerkschaft im Unternehmen einen Tarifabschluss erzielt hat. ´

Lediglich ein Kooperationsappell an die Gewerkschaften im Rahmen von Tarifverhandlungen wird aus Praxissicht nicht ausreichend sein, um eine tatsächliche Kooperation mehrerer Gewerkschaften während einer Tarifrunde zu garantieren. Berufsgruppengewerkschaften vertreten ausschließlich Partikularinteressen, treten für diese ein und versuchen, diese durchzusetzen. Auf eine Kooperation mit anderen Gewerkschaften fühlen diese Gewerkschaften sich nicht unbedingt angewiesen. Aus Praktikersicht sollte daher ein echter Kooperationsanreiz für konkurrierende Gewerkschaften bei Verhandlung und Abschluss von Tarifverträgen geschaffen werden (z.B. durch Synchronisierung der Laufzeiten, inhaltliche Kooperation). Koordinationsregeln für die Betätigung mehrerer Gewerkschaften im und gegenüber einem Unternehmen sichern den Betriebsfrieden und Betriebsabläufe. 

Ein Arbeitgeber muss sich während der Laufzeit eines Tarifvertrages auf die bestehende Friedenspflicht verlassen können. Es muss deshalb gesichert sein, dass eine Minderheitsgewerkschaft, die erstmals eine Tarifforderung erhebt, diese Friedenspflicht nicht durch die Formulierung einer beliebigen Tarifforderung unterlaufen kann. 

Der Gesetzentwurf wird nicht in allen Branchen, insbesondere nicht in der Dienstleistungsbranche (hier kann die Leistung kann nicht nachgeholt werden), alle vorhandenen Probleme lösen können. Dies gilt insbesondere in den Unternehmen, wo „vereinbarte Tarifpluralität“ (Tarifverträge mit unterschiedlichen Gewerkschaften, ohne Überschneidungen im persönlichen Anwendungsbereich) einer bereits seit Jahren existierenden Realität mit allen hiermit verbundenen wirtschaftlichen Folgen entspricht. Diese Gegebenheiten müssen entsprechend berücksichtigt werden. 

Gerichtliche Auseinandersetzungen sind keine gleichwertige Handlungsoption oder ein übliches Mittel der Tarifpolitik. Die Beschreitung des Rechtswegs ist während laufender Tarifverhandlungen und Auseinandersetzungen eher als „ultima  ratio“ in Betracht zu ziehen. Eine gesetzliche Lösung sollte daher zum Ziel haben, Gerichtsverfahren nach Möglichkeit überflüssig zu machen. 

Sofern die Spielregeln für eine tarifplurale Gewerkschaftslandschaft durch Gesetz geschaffen werden sollen, sind auch Regelungen zu finden, wie das Verhältnis zwischen mehreren nebeneinander bestehenden Zuordnungstarifverträgen oder der Sperrwirkung mehrerer Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen nach § 87 Abs. 1 BetrVG gestaltet und gelöst werden soll.

Autoren:

Christoph Wilhelm, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Luftverkehr;
Matthias Rohrmann, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband MoVe e.V.